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Kein englisches Pflichtteilsrecht in Deutschland? BGH, Urteil vom 29.06.2022 – IV ZR 110/21

Der BGH hat am 29.06.2022 einen Fall entschieden in dem es um die Anwendbarkeit des englischen Pflichtteilsrechts in Deutschland ging (BGH, BeckRS 2022, 17575).

Der Erblasser, ein Engländer, welcher seit seinem 29. Lebensjahr in Deutschland wohnte, hatte ein notarielles Testament verfasst. In diesem hat er eine gemeinnützige GmbH als Alleinerbin eingesetzt und somit seinen eigentlich erbberechtigten Adoptivsohn enterbt. In demselben notariellen Testament hat der Erblasser zudem eine Rechtswahl zu Gunsten des englischen Rechts getroffen.

Der enterbte Adoptivsohn wollte nun Auskunft über den Bestand des Nachlasses, um seinen Pflichtteil geltend machen zu können. Dies setzt allerdings voraus, dass er überhaupt Pflichtteilsberechtigter ist. Für die Beantwortung dieser Frage musste der BGH zunächst klären, ob das englische Pflichtteilsrecht in Deutschland angewandt werden darf. Dies richtet sich nach Art. 35 EuErbVO. Hiernach ist zu prüfen, ob die Anwendung des englischen Pflichtteilsrechts im konkreten Fall mit der öffentlichen Ordnung (ordre public) in Deutschland (un)vereinbar ist.

I. Pflichtteilsrecht in Deutschland

In Deutschland steht gem. § 2303 Abs. 1 BGB jedem Abkömmling, welcher enterbt wurde, zumindest die Hälfte seines gesetzlichen Erbteils als Pflichtteil zu. Dieser Anspruch besteht grundsätzlich immer und ist vor allem unabhängig von der Bedürftigkeit des Abkömmlings. Der Pflichtteilsanspruch nach deutschem Recht entfällt nur, wenn ein Pflichtteilsverzichtsvertrag geschlossen oder der Pflichtteil entzogen wurde.

Im Jahr 2005 hat das BVerfG (BVerfGE 112, 332 ff.) zudem entschieden, dass der Pflichtteilsanspruch der Kinder des Erblassers Art. 14 Abs. 1 S. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG im Grundgesetz verankert und somit Teil der öffentlichen Ordnung in Deutschland ist.

II. Pflichtteilsrecht in England

Das englische Erbrecht sieht hingegen einen bedarfsabhängigen Pflichtteil vor. Somit steht dem enterbten Abkömmling nach der Inheritance (Provision for Family und Dependants) Act 1975 ein Anspruch auf Unterhaltssicherung zu, dessen Höhe durch das Gericht nach billigem Ermessen bestimmt wird.

Ob ein solcher Anspruch besteht, richtet sich zum einen nach der Bedürftigkeit des Abkömmlings. Hierbei ist maßgeblich, ob der Teil des Nachlasses für den Unterhalt des Abkömmlings getätigt worden wäre. So steht volljährigen Abkömmlingen nur sehr selten ein Pflichtteil nach englischem Recht zu.

Zum anderen muss der Erblasser seinen letzten Wohnsitz in England oder Wales gehabt haben. Hierfür ist maßgeblich, ob der Erblasser seinen tatsächlichen Aufenthalt in einem anderen Land hat und die Absicht hat, in diesem Land für immer oder zumindest für unbestimmte Zeit zu bleiben und nicht zurückzukehren.

III. Entscheidung des BGH

Der BGH hat in seinem Urteil entschieden, dass die Anwendung des Pflichtteilsrechts in England in dem vorliegenden Fall mit der öffentlichen Ordnung in Deutschland unvereinbar ist.

Damit geht der BGH den vom BVerfG im Jahr 2005 vorgegebenen Weg weiter. Aus Art. 14 Abs. 1 S. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG ergibt sich nach dem BVerfG nämlich, dass in Deutschland jedem Kind eine unentziehbare und bedarfsunabhängige Mindestbeteiligung an dem Nachlass der Eltern zusteht. Schließlich besteht zwischen Eltern und Kindern ein besonderes Verhältnis, welches dazu verpflichtet finanziell und persönlich Verantwortung füreinander zu übernehmen und das nicht nur bis zum Tod, sondern auch darüber hinaus.

Die Anwendung des englischen Pflichtteilsrecht würde in dem vorliegenden Fall dazu führen, dass dem Adoptivsohn des Erblassers kein Pflichtteil zusteht. Schließlich lebte der Erblasser seit mehreren Jahrzehnten in Deutschland und es war auch nicht erkennbar, dass er nach England zurückziehen wollte. Daher steht dem Adoptivsohn schon mangels Wohnsitz des Erblassers in England oder Wales nach englischem Recht kein Pflichtteil zu und hat somit nicht die in Deutschland zwingend vorgesehene Teilhabe an dem Nachlass des Erblassers. Außerdem hat der BGH ausgeführt, dass der bedarfsabhängige Pflichtteil im englischen Recht regelmäßig hinter den verfassungsrechtlichen Vorgaben in Deutschland zurückbleiben wird, besonders, wenn volljährige Abkömmlinge betroffen sind. Die Anwendung des englischen Rechts in diesem Fall ist deshalb nicht mit der öffentlichen Ordnung in Deutschland vereinbar.

Zusätzlich muss nach dem BGH ebenfalls ein hinreichender Bezug zu Deutschland bestehen. Diesen hat er im vorliegenden Fall bejaht, weil der Erblasser und sein Adoptivsohn ihren gewöhnlichen Aufenthalt zum Zeitpunkt des Todes des Erblassers in Deutschland hatten, der Erblasser seit mehreren Jahrzehnten in Deutschland lebte und der Adoptivsohn die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Dort befand sich auch das Vermögen des Erblassers.

Der BGH hat somit das deutsche Recht angewandt und den Auskunftsanspruch des Adoptivsohns bejaht.

IV. Rechtswahl im Testament – Was nun?

Durch die Entscheidung des BGH steht nun fest, dass durch die Wahl des englischen Rechts das deutsche Pflichtteilsrecht nicht umgangen werden kann, wenn ein hinreichend enger Bezug zu Deutschland besteht. Dasselbe gilt auch für alle anderen Rechtsordnungen, in denen das Pflichtteilsrecht bei der Anwendung im konkreten Einzelfall nicht den deutschen Anforderungen gerecht wird.

Für bereits bestehende Verfügungen von Todes wegen, in denen mit einer entsprechenden Rechtswahl erreicht werden sollte, dass die Abkömmlinge keinen Pflichtteil erhalten, kann nun nach der Entscheidung des BGH Handlungsbedarf bestehen. Das gewünschte Ergebnis könnte alternativ durch einen Pflichtteilsverzichtsvertrag oder durch die Entziehung des Pflichtteils erreicht werden:

Pflichtteilsverzichtsvertrag: Der Erblasser und der Abkömmling können gem. § 2346 BGB einvernehmlich einen Pflichtteilsverzichtsvertrag schließen. Dies setzt selbstverständlich voraus, dass der Abkömmling freiwillig auf seinen Pflichtteil verzichtet und erfolgt deshalb oftmals gegen eine Abfindung. Der Verzichtsvertrag bedarf der Beurkundung durch einen Notar.

Entziehung des Pflichtteils: Der Erblasser kann auch gem. § 2333 BGB dazu berechtigt sein den Pflichtteil zu entziehen. Dies kommt zum Beispiel dann in Betracht, wenn der Abkömmling den Erblasser oder eine ihm sehr nahestehende Person nach dem Leben trachtet oder diesen Plan bereits in die Tat umgesetzt hat. Die Entziehung des Pflichtteils kann durch letztwillige Verfügung erfolgen, in welcher die Gründe für die Entziehung anzugeben sind.

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